Review

Übermalter Koloss – Übermalungskoloss. Rainers Zeitspuren in Salzburg

08. März 2025
Marion Sauer

Arnulf Rainer, Ohne Titel, ca. 198, gemischte Technik auf Chronolithografie, Karton und Holz. Courtesy Galerie Thaddaeus Ropac, London · Paris · Salzburg · Milan · Seoul © Arnulf Rainer, Foto: Ulrich Ghezzi.

Anlässlich seines 95. Geburtstags zeigt die Galerie Thaddaeus Ropac zwei Bildserien des österreichischen Künstlers Arnulf Rainer. Seine charakteristischen Übermalungen werden hier gleichzeitig zum Werkzeug der Übersteigerung und der Zerstörung vorangehenden künstlerischen Schaffens

Schemenhaft erkennbare Gesichter starren unter dunklen Flecken hervor, sie kneifen die Augen zusammen und rümpfen die Nase unter der dicken roten Farbe. Daneben kämpfen sich Bergarbeiter in einfachen Leinenkleidern durch eine blau bekleckste historische Landschaft. Grüne und gelbe Pinselstriche bremsen einige schwere Loren aus, die die kleinen Männer von über den Horizont wabernden, roten Schlieren wegschieben. Mit dieser Farbgewalt konfrontiert die Galerie Thaddeus Ropac aktuell ihre Besucher:innen. Unter dem Titel Landschaften – Goya werden seit Jahresbeginn Arbeiten Arnulf Rainers gezeigt, die der Künstler zwischen 1983 und 1992 geschaffen hat. Einige sehen aus, als hätte er aus Versehen das Wasser, in dem er seine Pinsel auswäscht, über das Bild gekippt. Doch Rainer setzt den Effekt herabrinnender Farbe bewusst ein, wobei sich nicht so leicht entscheiden lässt, ob es sich um Werkzeuge der Zerstörung oder der Fortsetzung handelt.

Zerstörtes Gelände: Die Landschaftsserie

Arnulf Rainer, Landschaften—Goya 1983—1992, Ausstellungsansicht, Thaddaeus Ropac Salzburg, 2025. © Arnulf Rainer. Foto: Ulrich Ghezzi.

Für die erste der beiden Serien übermalte Rainer Motive aus Landschaftsbüchern des 18. und 19. Jahrhunderts. In solchen Veröffentlichungen wurden entweder Naturstudien oder Landschaftsbilder gesammelt, um sie einem breiten Publikum zugänglich zu machen. Hier bekommen die klassizistischen Motive eine ganz neue Dimension: Die von Rainer dünn aufgetragenen Farbschichten lassen die Ansichten darunter immer wieder durchscheinen. Manche der Ausgangswerke sind so noch sehr gut zu erkennen, andere sind unter den Farbflecken beinahe nicht auszumachen. Gleichzeitig scheinen die gestischen Übermalungen den natürlichen Linien und Bewegungen der ursprünglichen Naturdarstellungen zu folgen: In einem Beispiel werden die herabstürzenden Ströme eines Wasserfalls formal als auch inhaltlich durch blaue und rote Pinselstriche ergänzt, die derselben Abwärtsbewegung folgen. In einem anderen Beispiel akzentuieren große orange-rote und hellblaue Farbflecken die Wogen eines unruhigen Flusses. Die ursprünglich dargestellte Bewegung in den Kompositionen der Werke wird durch Rainers farbige Übermalungen nochmals gesteigert – oder kontrastiert.

Picken zum Beispiel auf einem der ursprünglichen Motive einige Singvögel friedlich am Schilfufer eines Flusses nach Futter, lässt Rainers „Zeitschicht“ in schwarz-braunen Flecken einen abstrakten Vogelschwarm über den weißen Hintergrund flattern. Was hat diese Vögel aufgeschreckt? Der Schuss eines miniaturhaften Jägers, der am unteren Bildrand eines weiteren Werks seine Flinte an der Schulter baumeln lässt? Die vorher ruhige Flussszene wirkt plötzlich hektisch und ruhelos, als hätte der Künstler das Geschehen weitergesponnen. Die Landschaften werden so zum Schauplatz für künstlerische Aneignung und düstere Metamorphosen.

Genau diese Veränderungen lassen einen vor den Werken der Landschaftsserie verweilen. Die zugrundeliegende Szene gilt es durch die Farbschichten zu entschlüsseln und gerade, wenn sich die Geschichte im Werk beginnt zusammenzusetzen, schiebt sich ein neuer Farbstreif, ein bunter Pinselstrich ins Sichtfeld und über die geglaubte Erkenntnis.  Rainer beschreibt seine Übermalungen als eine Technik, bei der „durch einen aggressiven Überarbeitungs- und Zerstörungsakt aus einem halbguten alten Bild ein bessere[s] erwüstet“[1] wird. Im künstlerischen Akt erschafft er aus dem Alten und Bekannten etwas Neues und spannt darin auch einen Bogen zu den Naturdarstellungen, die ihm, in ihrer vom Künstler geringer bewerteten Qualität, als solide Basis dienen – wie ein Waldbrand riesige Landstriche zerstört und gleichzeitig den Nährboden für eine Unzahl an Pflanzen schafft, versteht Rainer seine Arbeitsweise so als aufwertende Geste.

Brutale Hommage: Die Goya-Serie

Arnulf Rainer, Landschaften—Goya 1983—1992, Ausstellungsansicht, Thaddaeus Ropac Salzburg, 2025. © Arnulf Rainer. Foto: Ulrich Ghezzi.

Auch in der zweiten Serie arbeitet sich Rainer an Werken des 19. Jahrhunderts ab – und zieht dabei Francisco de Goya (1746–1828) als Referenz heran. Rainers übermalte Köpfe sind stark verbunden mit den düsteren Spätwerken des spanischen Malers: Sie lösen beim Betrachten eine ähnliche Beklommenheit aus wie Der Koloss (nach 1808) oder Saturn verschlingt seine Kinder (1820–1823). Ausschlaggebend sind für diese Atmosphäre aber nicht vorrangig die Motive, denn beide Künstler behandeln Gewalt und Verwüstung inhaltlich auf ihre ganz eigene Weise. Vielmehr ist es der Akt der Revision, des wilden Übermalens einer spanischen Ikone und die dunkle Farbkraft. Ist das eigentlich eine liebevolle Geste – eine Hommage – oder eine äußerst brutale? Die Arbeiten von anderen Künstlern zu übermalen? Goya greift in seinen Gemälden die Themen mit unzähligen bildlichen Anspielungen auf, die stark mit der politischen Situation Spaniens, der empfundenen Bedrohung durch das Nachbarland Frankreich und die darauffolgende Revolution verknüpft sind.

Indem Rainer Bildausschnitte von Goyas Werken auswählt und stark vergrößert, bevor er sie übermalt und damit die Referenzwerke beinahe zur Unkenntlichkeit überlagert, lässt sich über konkrete Eindrücke, die er hier aneignend behandelt, nur spekulieren – wenn auch vor dem Hintergrund der Entstehungszeit erahnen. Die ovalen Formen und die expressionistischen Übermalungen in Blau- und Rottönen agieren in beinahe zerstörerischer Geste mit den darunterliegenden Fotografien und machen es so schier unmöglich, die von Rainer gewählten Ausschnitte den ursprünglichen Werken Goyas zuzuordnen – deren Motiv tritt buchstäblich in den Hintergrund. Als Betrachter:in bleibt man mit einer expressiven Suppe an dunklen Formen und Farbflecken zurück, hinter denen nur noch schemenhaft Gesichter erkennbar sind.

In Freudscher Manier wird das Bild hier zu Werkzeug der (Alp-)Traumdeutung, der Suche nach dem Selbst im Gegenüber. Vor Rainers Serie projiziert sich die eigene Gefühlswelt langsam auf die übermalten Gesichter. Nach und nach wirken die Pinselstriche nicht mehr willkürlich und fahrig – sie beginnen sich zu einem neuen Bild zu ordnen. Das Kunstwerk, das bei Francisco de Goya seinen Ausgangspunkt nimmt und von Rainer in einer Geste brutaler Hommage verändert wurde, beginnt seine letzte Metamorphose in der Selbstreflexion der Betrachter:innen.

Kriegerisches Übermalen: Aus Alt mach Neu

In beiden Serien ‚zerstört‘ Rainer bereits Dagewesenes, um etwas ‚Neues‘ zu schaffen. Die Landschaftsbilder erzählen die Geschichte eines Bilds, das alt und vergessen war und dessen ursprüngliches Motiv durch das Eingreifen des Künstlers überschrieben und gleichermaßen persönlich aktualisiert wurde. Die Goya-Bilder hingegen animieren das betrachtende Publikum durch ihre expressive Darstellung und düstere Stimmung dazu, sich mit den eigenen Emotionen ebenso wie mit den ursprünglichen Anspielungen auf Krieg und Leid auseinanderzusetzen. Der kriegerische Ansatz liegt bei Rainer in der (wortwörtlichen und metaphorischen) Überlagerung von Kunstwerken – im Übermalen von Kolossen der Vergangenheit – und bringt damit trotz des Alters der in den 80ern und 90ern entstandenen Serien eine durchaus zeitgenössische Position in die Villa Kast.



Fußnoten

[1] Zitat Arnulf Rainer von 1974 in der Biografie zum Künstler auf der Website des Arnulf Rainer Museum, https://www.arnulf-rainer-museum.at/de/eintauchen/arnulf-rainer (zuletzt aufgerufen am 03.03.2025).

25. Januar bis 05. April

Arnulf Rainer. Landschaften – Goya 1983 – 1992
Thaddaeus Ropac