Vom Unsichtbaren im Sichtbaren. Sophie Thuns Metaphysik „Zwischen Licht und Wand“
16. Jänner 2025
Doris Huber
Die Otto-Breicha-Preisträgerin Sophie Thun beeindruckt in ihrer Ausstellung „Zwischen Licht und Wand“ im Rupertinum durch eine vielschichtige Reflexion über Raum, Erinnerung und die Relationalität von Wirklichkeit. Der begleitende Ausstellungskatalog, ein Kunstwerk, für sich, vertieft Thuns Werk in seiner gesellschaftspolitischen und geistesgeschichtlichen Relevanz
Die Intention dieses kleinen Texts zur Ausstellung von Sophie Thuns fulminanter, fotografischer Installation Zwischen Licht und Wand liegt explizit nicht darin, zum – wenn auch immens lohnenden – Besuch derselben anzuregen beziehungsweise einen solchen schmackhaft zu machen. In einem so kleinen Textformat würde das zwangsläufig eine Beschränkung auf die Beschreibung offensichtlicher Merkmale der Ausstellung mit sich bringen. Vielmehr möchte der folgende Beitrag auf einen im höchst qualitätsvollen Katalog[1] zur Schau noch nicht in Gänze thematisierten Aspekt von Sophie Thuns Arbeit aufmerksam machen.[2]
In diesem Katalog wie ebenso im begleitenden Artist Talk ist und war viel die Rede von fotografisch-technischen Verfahren, kunsthistorischer Referenzialität, weiblicher Selbstermächtigung, kritischer Reflexion fremdbestimmter Sexualisierung und Objektivierung von Frauen, Verweisen auf Autor:innenschaft, implizite Performativität in den künstlerischen Verfahren und weiteren kuratorischen Standards der Gegenwartskunst. Diese verweisen aber noch nicht auf Sophie Thuns Alleinstellungsmerkmale. Lediglich die außergewöhnliche Verdichtung einer Vielzahl von Zeitschichten und Arbeitsschritten, zusammengeführt in den einzelnen Werken, worauf die Kuratorin Marijana Schneider mit der einprägsamen Metapher vom „Sezieren des Mediums”[3] hinweist, stellt eine der wichtigen Besonderheiten der Fotokünstlerin Thun mit Nachdruck heraus. Ein weiteres Verdienst Schneiders ist die Zusammenstellung der Katalogbeiträge, von denen besonders jene des Kurators und Autors Daniel Muzyczuk und der Philosophin und politischen Theoretikerin Jule Govrin an Bedeutsamkeit herausragen, weil sie Sophie Thuns Arbeit in ihrer gesellschaftspolitischen und geistesgeschichtlichen Relevanz deutlich werden lassen.
Govrin weiter gedacht, weist Thuns Werk durch ihr künstlerisches Subjektverständnis den falschen Zauber der ‚Authentizität’ zurück. Sie verweigert dezidiert jene sonst immer noch häufig zelebrierte Einzigartigkeit der genialisierten Künstler:innenpersönlichkeit, die als Erbe des 19. Jahrhunderts die Erwartungen des bildungsbürgerlichen Geschmacks zu befriedigen sucht. Wie gelingt ihr das? Mit ihren besonderen künstlerischen Verfahren tritt das Künstlerinnensubjekt hinter die Ernsthaftigkeit im Umgang mit der Materialität der Fotografie und den vielen notwendigen, praktischen Arbeitsschritten zurück. Durch das häufige Erscheinen des Künstlerinnenkörpers in den Abbildungen sollten sich die Betrachtenden nicht auf eine falsche Fährte locken lassen. Dieser Körper löst sich im Betrachter:innen-Auge zunehmend von seiner Bindung an ein konkretes Individuum. Er bringt eine Gemengelage aus Ich-Anteilen, Erinnerungen, Prädispositionen, Einflüssen, Vorgeschichten und Ausblicken zum Erscheinen und entindividualisiert sich dadurch.[4]
Mit ihrem vornehmlich fotografiehistorischen Katalogbeitrag veranschaulicht die Kuratorin und Autorin Magdalene Vucovic die exorbitant haptische Dimension von Thuns Arbeitsweise. Mit ihrer Schilderung von der Arbeit der Künstlerin am und zum Werk der polnischen Fotografin Zenta Dzividzinska (1944–2011) – Thun selbst nennt es eine „Einverleibung”[5] – markiert sie die latente, zeitlich ungebundene Solidarität und Kooperationsbereitschaft der sonst mit Leidenschaft in Abgeschiedenheit agierenden Künstlerin.
Metaphysik zwischen Licht und Wand
In der klassischen Metaphysik ist ein erkenntnistheoretisches Erfassen der Gesamtwirklichkeit angestrebt. Dabei wird die Wirklichkeit in Gänze als Prozess verstanden, um sie in all ihrer Vielfalt angemessen erfassen zu können. Die selbstkonstituierenden Prozesse universeller Wirklichkeit bilden Geflechte von Beziehungen, welchen mit binären Ordnungskategorien nicht beizukommen ist.
In einer stark prozessorientierten Arbeitspraxis wie jener von Sophie Thun kann eine rationalistisch motivierte Aufspaltung der Wirklichkeit in Sichtbares und Unsichtbares vermieden werden. Die Person in ihrer posthumanistischen Verflechtung mit der Welt verkörpert sich im dynamisierten Raum multipler Beziehungslinien. Die Künstlerin bespielt die Zwischenräume. Zwischen Licht (sachlich präziser wäre wohl Lichtquelle) und Wand, zwischen direkter Wahrnehmung und Imagination, zwischen found footage und dem in unterschiedlichen Zeitschichten und Settings Fotografiertem, zwischen ihrem real anwesenden Körper und dem konstruierten Selbstbild. Damit wendet sie sich gegen die im westlich-humanistischen Denken allgegenwärtige Bifurkation – eine analytische Unterscheidungs- und Absonderungswut –, welche die Parameter der Wirklichkeit immer sauber zu trennen sucht. Thuns Werk macht hingegen die Verwobenheit umfassender Relationen der Wirklichkeit sichtbar. Jenseits des Abbildens von primär an den Dingen wahrgenommenen und ihnen zugedachten Eigenschaften (was sonst eines der vorherrschenden Merkmale fotografischer Praxis ist) wie der Ausdehnung von Objekten im Raum, ihrer Bewegung oder Farbigkeit, öffnet sie mit ihrer Technik der Schichtung zeitlich voneinander getrennter Konstellationen eine Dimension immaterieller Zuschreibungen. In der Irritation, die sich beim Anblicken der Fotobahnen zunächst einstellt, ermisst sich die Dringlichkeit der Aufforderung zu einer veränderten Betrachtungsweise. Die Rezipierenden werden in die Lage versetzt, den Bildern Dispositionen, Funktionen und Bedeutungen im besten Sinne ‚anzudichten’. Einer ungleich ganzheitlichen Erfarhung der im Grunde widerspüchlichen Realität wird der Weg gewiesen.
Wie so oft ist das Denken mit und in Bildern – in diesem Falle Thuns Einladung zur Teilhabe an ihren inneren Aushandlungsprozessen und ihrer visuellen und damit nonverbalen Weltwahrnehmung – das Mittel der Wahl; unser aller Bildfaszination mag darin begründet sein. Das immer noch im kollektiven Alltagsbewusstsein vorherrschend wirksame, klassische Konzept der materiellen Welt wird obsolet und eine Harmonisierung von Sichtbarem und Unsichtbarem spürbar. Unterstützt werden diese Wahrnehmungsprozesse bei Thun auch durch das stark skulptural beziehungsweise geradezu architektonisch organisierte Display der fotografischen Installation von Zwischen Licht und Wand. Immaterialität und relationale Realität von Erinnerung sind ganz entscheidende Entstehungskomponenten dieses Werks.
Drei konkrete Belege des Erscheinens von Unsichtbarkeit im Sichtbaren
Prominent prangt der Begriff Remember® (mit hochgestelltem R im kleinen Kreis als eingetragene Marke ausgewiesen) auf einem Abzug, welcher in einem Spiegel reflektiert die Wundermaschine der Erinnerung – in diesem Fall eine Großformatkamera – par excellence zeigt. Hier öffnet sich der Assoziationsraum zu Gedächtnis, Rückschau, Andenken, Souvenir, Erbe – alles ohnehin alltäglich bewohnte Felder immaterieller, unsichtbarer Realitäten.
Des Weiteren kommen Immaterialität und Unsichtbarkeit in den Fokus, wenn Thun in den kleineren Räumen der Ausstellung die abgebildeten Arbeitsflächen ihrer Dunkelkammer mit wenigen Werkzeugen, fast ohne vorgefertigte Fotografien, aber mit den Spuren ehemaliger Fixierung präsentiert. Sie lassen die Betrachtenden wünschen, in den Kopf der Künstlerin zu steigen und aus deren Erinnerung heraus die ehemals dort befestigten Artefakte zu imaginieren. Ein diesbezügliches Detail ziert auch signifikanter Weise eine der vier Titelseiten des höchst unkonventionellen Katalogs, der sich mit seiner komplex-skulpturalen Materialität als ein eigenständiges Kunstwerk behauptet.
Im Zusammenhang mit Thuns fotogrammatischer Technik öffnet sich eine weitere Ebene der Unsichtbarkeit im Sichtbaren. Historisch gesehen ist diese Technik die älteste der von der Künstlerin durchdeklinierten und praktizierten fotografischen Arbeitsverfahren. Sie wird seit etwa 200 Jahren und ohne Kamera ausgeführt und feiert eine auffallende Konjunktur in gegenwärtigen Kunstpraktiken. Bei Thun, die fast alle Arbeitsschritte in ihrem Werk offenlegt, bringt das die Aufzeichnung nicht sichtbarer, aber real vollzogener Bewegungen während der langen, 20-minütigen Belichtungszeit mit sich. Wie in Sugimoto Hiroshis (*1948) Fotozyklus Theatres, wo ganze Filme in einer fotografischen Aufnahme verdichtet eingeschrieben sind, behaupten alle Bewegungen Sophie Thuns im Raum zwischen Lichtquelle und lichtempfindlicher Fläche ihre geisterhafte Existenz. Sie bleiben nicht sichtbar, aber erinnerbar und damit unbestreitbar real.
Sophie Thuns Raumkunst
Die Werke der Künstlerin im Rupertinum erscheinen nicht nur ‚im’ Raum, sondern ‚als’ Raum. Mit scheinbar wenigen gezielten Kniffen, wie dem Auslaufenlassen der Bildträger in den Boden, oder dem Spiel mit einem erschwerten Durchgang durch die Installation, in den sich die Bildkompositionen wechselweise von links und rechts wie Barrieren einschieben, organisiert sich der Raum gänzlich neu. Thun legt die Bedingungen seiner Sichtbarkeit und seines Gesehenwerdens fest. Beim Durchschreiten ergibt sich zwangsläufig eine Choreografie von Ausweichmanövern, die in Nischen führen, von Drehungen, Wendungen und Rückblicken.[6] Der bemerkenswerte, illusionistische trompe l’oeil– Effekt der lebensgroßen Formate wurde andernorts bereits angesprochen. Auf den ersten Blick allerdings, seltsam disparat hierzu, verhält sich die nachlässig wirkende Applikation der einzelnen Fotobahnen, wenn sie nur mit wenigen Magneten aneinandergefügt werden und kleine Öffnungen zulassen. Hier wird die Problematik der industriell genormten Maße in keiner Weise verschleiert oder beschönigt, sondern eine Unmittelbarkeit der Teilhabe am Arbeitssetting ermöglicht.
Thun strebt keine Vollkommenheit der Illusion an, sondern führt die Brüchigkeit von Wirklichkeit und unserer Projektionen auf sie vor.
Fußnoten
[1] Zwischen Licht und Wand/Between Light and Wall (Kat. Ausst., Museum der Moderne, Salzburg, 2024/25), hg. v. Harald Krejci und Marijana Schneider, Salzburg 2024.
[2] Mit ihrem Werk illustriert die Künstlerin wesentliche Aspekte der hochaktuellen Theoriebildung des New Materialism, dabei besonders jene posthumanistischer Ontologie wie sie in den Werken von Rosi Braidotti und Donna Harraway formuliert werden.
[3] Marijana Schneider zitiert Sophie Thun, in: Zwischen Licht und Wand/Between Light and Wall (Kat. Ausst., Museum der Moderne, Salzburg, 2024/25), hg. v. Harald Krejci und Marijana Schneider, Salzburg 2024, S. 20.
[4] Ontologisch gewendet und rekurrierend auf den neuen Subjektbegriff im posthumanistischen Diskurs tritt dabei eine postanthropozentrisch-selbstorganisierende Subjektivität auf den Plan, die der Komplexität und Widersprüchlichkeit der Gegenwart mit Bildern Paroli zu bieten vermag. Thuns Künstlerinnensubjekt verweigert sich dem normativ-appellativen Instrumentarium neoliberaler Gesellschaftsgefüge und wird damit immens gesellschaftspolitisch relevant.
[5] Zwischen Licht und Wand/Between Light and Wall (Kat. Ausst., Museum der Moderne, Salzburg, 2024/25), hg. v. Harald Krejci und Marijana Schneider, Salzburg 2024, S. 20.
[6] Der choreografierte Durchgang durch die Ausstellung lässt auf dem Rückweg die Hinterseiten der Wände aus Barytpapier im Blickfeld erscheinen. Dadurch tritt die skulpturale Qualität der Installation, jenseits der informativen Fülle der Vorderseiten, nochmal ganz deutlich hervor. Ein entsprechendes Bildmotiv hat die Buchdesignerin Marie Artaker im Katalog prominent in Szene gesetzt.
04. Oktober 2024 bis 23. Februar 2025
Sophie Thun. Zwischen Licht und Wand
Museum der Moderne, Rupertinum


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