Review

Mythen besetzen – Das Kind und sein Rhein

27. Juli 2024
Niklas Koschel

Anselm Kiefer, 2023 (AKI 1937). Courtesy Galerie Thaddaeus Ropac, London · Paris · Salzburg · Seoul © Anselm Kiefer, Photo: Georges Poncet

Die Galerie Thaddaeus Ropac zeigt in der Ausstellung "Mein Rhein" eine Reihe neuer Werke des deutschen Künstlers Anselm Kiefer. In stets überwältigenden Bildwelten kehrt der Künstler aktuell zu traditionsreicher Natursehnsucht sowie seiner Kindheit zurück

Anselm Kiefer ist ein Kind der unmittelbaren Nachkriegszeit. In einem unterirdischen Bunker, umgeben von den Trümmern eines zerbombten Donaueschingens, sei Kiefer unter der Erde zur Welt gekommen – so berichtet es Florian Illies in der Publikation zur Ausstellung. Mit Nachdruck mahnt der Journalist und Kunsthistoriker, man dürfe nicht vergessen: Kiefer käme „[…] längst von jenem Ort, an den wir anderen alle erst einmal gelangen werden“. Anselm Kiefer, bei Illies mehr Prophet als Künstler, hat sich wie kaum ein anderer in größter Akribie der Reflexion, Aufarbeitung und Rehabilitierung von Romantik, Mystik und Parawissenschaften gewidmet. In der aktuellen Werkschau fällt Kiefer auf sich selbst zurück. Die Ausstellung Mein Rhein ist ein Manifest an seine Kindheit und an seine spezifischen Formen des Erinnerns. Vom persönlichen Schicksal seiner selbst zieht er den Kreis zum historisch vieldeutigen Motiv des Rheins und schließt mit verheißungsvoller Natursehnsucht. 

Neu-Besetzungen bestehender Geschichte, Gesten und Erzählungen

Ende der 60er-Jahre wurde Kiefer durch seine Karlsruher Abschlussarbeiten Besetzungen (1969) schlagartig einer breiten Öffentlichkeit bekannt. In einer Reihe Schwarz-Weiß-Fotografien hebt er in der alten Wehrmachtsuniform seines Vaters vor verschiedensten Kulissen den Arm zum Faschistengruß. Die ehemals von NS-Deutschland besetzten Orte und Plätze in ganz Europa sind hier Gegenwart gestischer Aneignung und kritischer Distanznahme. Die vormalige Gebärde der Besetzung bricht in der einsamen und isolierten Figur Kiefers zusammen. Sowohl die Armbewegung als auch Gestalt des Künstlers werden durch diesen bewusst verlächerlicht. 

Kiefers frühe Auseinandersetzungen mit der Gefahr eines zum Mythos verkommenen Nationalsozialismus und die Behauptung der Beständigkeit faschistoider Gestik und Zeichen sorgten damals für einen Skandal. Das Stimmungsbild schwankte zwischen Faszination und Ablehnung. Die Arbeit, die sich nicht allein mit den ästhetischen als auch inhaltlichen Programmen einer problematischen deutschen Geschichte auseinandersetzte, polarisierte. Der Umgang mit solchen expliziten Formen von Erinnerung und Reflexion um Erinnerungskultur fiel schwer. Der Autor Karl Ove Knausgaard lässt 2020 im New York Times Magazine vermuten, dass selbst ein Künstler wie Marcel Broodthaers sich nicht sicher war, ob Kiefer nun Faschist oder Anti-Faschist sei. Heute wird Kiefers Arbeit explizit aus Sicht der Protestkultur der 1960er-Jahre gelesen, die wesentliche Aspekte der spätestens in den 80ern auch unter Historiker:innen geführten Debatte um Vergangenheitsbewältigung deutscher Geschichte vorgriff.

In einer der Fotografien aus der Reihe Besetzungen salutiert Kiefer in einsamer Rückenfigur, an Caspar David Friedrichs Der Wanderer über dem Nebelmeer (1818) erinnernd, einem weiten Ozean. Er dekonstruiert die für nationalsozialistische Propaganda wesentliche Idee einer deutschen Romantik sowie einer über christliche Spiritualität hinausgehenden deutschtümlichen Mystifizierung von Natur. Kiefers Arbeiten stehen seit jeher in einem Spannungsfeld: Die inhaltlichen Versatzstücke des Malers sind häufig nicht nur Motive, die auch explizit in der Propaganda nationalsozialistischer Ideen zentrale Rollen spielten, sondern ganz generelle epische und historische Narrative, deren romantische Anklänge schwer nur die Last ihrer Vergangenheit bewältigen können. Zentral in Kiefers Werk war bereits früh auch das Suchen nach einer ästhetischen Entgegnung auf Adornos bekannten Ausspruch, dass es nach den menschenverachtenden Gräueltaten von Auschwitz schlichtweg barbarisch sei noch Gedichte zu schreiben. Häufig entwickelte Kiefer hierfür Wege historisch reflektierenden Umgangs in eindrücklichen, teils überwältigenden Bildwelten. Ähnlich konservierender Raum- und Zeitkapseln trat der Künstler mit Arbeiten auf, die sich nicht von der Schuld der Geschichte zu befreien ersuchten, sondern tief in dieser gruben, um sie niemals zu vergessen.

programatische Dekonstruktion wandelt sich zu pragmatischer Selbstkonstruktion

Jahrzehnte später – Kiefer heute mehr als ein deutscher Nachkriegskünstler, der sich einzig mit deutscher Geschichte auseinandersetzt – taucht seine eigene, menschliche Figur wieder in Landschaften auf. Sein anhaltendes Interesse für Mystik sowie Formen der Mystifizierung verknüpft er nicht allein durch den Titel der Ausstellung inhaltlich mit sich selbst: Auch durch den Rückgriff auf bereits bekannte Motive und Themen seiner Arbeiten sowie die buchstäbliche Bekundung seiner künstlerischen Anwesenheit im Bild, ist Kiefer der Mittelpunkt seiner aktuellen Ausstellung. Die ehemalig programmatische Dekonstruktion historischer Identität wird zur pragmatischen Selbstkonstruktion persönlicher Identität. Einsam, möchte man meinen, vielleicht demütig, steht die Künstlergestalt in Anselm fuit hic (2023) nun ohne Gruß am Ufer ‚seines’ Rheins und bezieht sich in der Rückenfigur abermals auf die Romantik. 

Geschichtsvergessenheit kann man Anselm Kiefer selbstredend nicht vorwerfen. Seine präzise Analyse deutsch-nationaler Mythen scheint sich allerdings mehr und mehr im Interesse seiner eigenen Vergangenheit aufzulösen. Mit gesenktem Kopf steht der in einen Mantel gehüllte Künstler vor dem seichten Türkis des Rheins, der durch die Äste und Zweige der umliegenden Vegetation schimmert. Über dem entfernten Horizont, auf einem vergoldeten Himmel, steht in gewohnt kindlicher, Kieferscher Handschrift „anselm fuit hic“.

vom Kind zum Künstler zum Genie zum Kind

Die, wie Florian Illies im Katalog zur Werkschau schreibt, „[…] radikal persönliche Ausstellung […]“ verweist über die historisch komplexe Rezeption des Rheins hinaus. In erster Linie auf Kiefers Kindheit; besser wäre zu sagen, auf die Verknüpfung Kiefers Kindheit mit seiner eigenen künstlerischen Gegenwart. Zahlreiche Kinderzeichnungen des Künstlers bekunden seine frühe Faszination für den Rhein und die umliegende Natur seiner Heimat. Kiefer scheint seinem Urteil über den nationalsozialistischen Missbrauch deutscher Mythenwelten müde, und vermag den Rhein in erster Linie in Bezug auf sich selbst zu denken. Die Mystifizierung des Rheins im Verbund um die eigene Person sowie Illies Geschichte des jungen Kiefers, der gedankenverloren seine Hand in das vorbeifließende Wasser des Rheins tauche, irritiert. Längst überholte Formen der Kunstgeschichtsschreibung tauchen aus der formal so kraftvollen und aufwühlenden Materialität Kiefers Leinwände auf. Sie erinnern an Erzählungen von Künstlergenies*, wie sie einst bei Giorgio Vasari ihren Anfang nahmen.
Diese Idee des Großkünstlers, eines im Rückblick sinnstiftenden Künstlerschicksals, findet sich auch im erst kürzlich erschienenen Filmporträt Anselm. Im Rausch der Zeit von Wim Wenders wieder. Auch hier, in der Endsequenz, die Idee einer geniehaften Verschmelzung von eigener Kindheit und gelungener, bewältigter Virtuosität im Alter. Ein Kreis, der sich schließt. Wenders, der den jungen Kiefer auf den Schultern des älteren mit diesem Eins werden lässt, Florian Ilies, der berichtet, dass sich Kiefer aus den Ruinen und Trümmerfeldern ans Licht gewühlt habe, so wie dieser mit seinen neuen Arbeiten nun aus den Tiefen des Rheins zu uns in die Gegenwart auftauchen würde. Der unüberwindbare Pathos, den der Künstler in seinen Kunstwerken selber stets inhaltlich ins Zentrum seiner Arbeitsweise setzt, stößt zuweilen bitter auf. Der Umgang mit Kiefer fällt schwer. Sind da doch auch die Verdienste rund um eine kritische Distanz und historisch präzise, vielfältige Aufarbeitung epischer Narrative sowie der faszinierende Reichtum an Material und Ausdruck von mit Spuren und Narben übersäter Leinwände.

die stete Präsenz des künstlers

„Anselm fuit hic“ bekundet der Künstler die Präsenz seiner selbst. Anselm war hier. Unmissverständlich macht der Künstler den Betrachtenden seine Anwesenheit deutlich und referiert dadurch auf eine weitere Größe der Kunstgeschichte – Jan van Eycks Doppelporträt der Arnolfini Hochzeit. Kiefer bekundet seine Anwesenheit, die, wie man meinen möchte, nie infrage stand und doch nun wiederholt manifestiert werden muss. Anselm war hier. Doch wo ist Anselms Hier? Trotz der so topografisch präzisen Bestimmung des Rheins scheinen die von Kiefer erzauberten Welten nur schwer zu verorten. Sollte in der Beschäftigung mit den Mythen und Geschichten, die seit Jahrhunderten in kulturellen Gedächtnissen mitgetragen werden, sowas wie Identität liegen, sucht man den Realitätsbezug zum Jetzt vergeblich. 
Stattdessen bezeichnend ist: Die Arbeiten, mit denen Kiefer einst die Bildfläche betrat, die kritisch gestischen Besetzungen eines ehemals menschenverachtenden Deutschlands – das den erst besiegten Faschismus noch heimlich in den Brusttaschen der vorherigen Generation weiterträgt – hätte heute erschreckend wirkungsvolle Wucht.

In ihrer Verquickung zur eigenen Kindheit lassen die Arbeiten eine ähnliche Wucht vermissen und wirken zuweilen – entgegen ihrer umfänglichen, schweren Materialität – inhaltlich unsicher. Vielleicht ist es ja gerade diese Unsicherheit, die sich nicht gleich zu Beginn dar- aber nach und nach einstellt und es vermag, Kiefers aktuelle Arbeiten in die konsequente Folge seines Vermächtnisses zu setzen. Im Angesicht unzähliger Kubikliter dahinfließenden Wassers legt Kiefer das Zeugnis ab, dass alles irgendwann geht. Am Ende ist der uns auf den Bildern mit dem Rücken zugewandte Mann gar kein Prophet, sondern ein beständiger Zweifler. Einer, der sich durch seine eigene Handschrift zu überzeugen versucht, dass irgendwie dann doch alles bleiben kann.
Vielleicht lassen sich in dieser Ambivalenz Kiefers Werke für das Bessere gewinnen. So bleibt am Ende eine immer wiederkehrende Gewissheit: Mit großen Gesten gewinnt man Zeit, aber nicht die Geschichte. Diese schwimmt kontinuierlich davon – gerade im Rückschluss auf sich selbst.

* Das generische Maskulin findet hier Verwendung, um explizit auf den ursprünglich männlich konstruierten Topos des Künstlergenies zu verweisen.

Literatur

Illies, Florian. Sein Rhein. Zu Anselm Kiefers neuesten Grabungen in den Wildnissen der Erinnerung, in: Anselm Kiefer. Mein Rhein, 2024, S. 8.

Knausgaard, Karl Ove. In Search of Anselm Kiefer. My five-year quest to understand the mind of one of the world’s greatest – and most elusive – artists. The New York Times Magazine, February 16, 2020, S. 33.

Illies, Florian. Sein Rhein. Zu Anselm Kiefers neuesten Grabungen in den Wildnissen der Erinnerung, in: Anselm Kiefer. Mein Rhein, 2024, S. 7.

26. Juli bis 28. September

Mein Rhein
Thaddaeus Ropac Salzburg, Villa Kast

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