Tangerine – Queere Hackingsysteme und bittersüße Gesten
24. Mai 2025
Anna Menslin
Eine performative Installation von Göksu Kunak mit Bilgesu Akyürek und Felix Beer zur Eröffnung des Festivals wild thinX: non-conformist strategies in architecture, design and art in der FÜNFZIGZWANZIG
„Always well hidden“
Ein Lichtkegel streift über den Boden. Auf allen Vieren kriecht ein:e Performer:in; die Knie schleifend, die Hände sich über den grauen Beton schiebend. Mit der Taschenlampe in der Hand begibt sich Göksu Kunak (*Ankara, 1985) gemeinsam mit Bilgesu Akyürek und Felix Beer auf Spurensuche und beleuchtet das, was im Verborgenen agiert. In Tangerine verkleben Körperlichkeit, Zeit und Raum zu einem widerständigen Akt, der Strukturen offenlegt und alternative Strategien der Raumaneignung definiert. Die Performance hinterlässt nicht nur Spuren, sondern transformiert den Raum durch zyklische Formen und bittersüße Gesten.
Hacking als queer-feministische, non-konformative Strategie
„Using ways of being as a hacking system“[1]
Hacking bezeichnet das Eindringen in ein System, ohne dieses unmittelbar zu zerstören; eine vorgenommene Unterwanderung, um ein System auf alternative Weise zu nutzen, zu hinterfragen und von innen aufzubrechen – subtil und schädlich zugleich. Angewandt als widerspenstige Strategie bedeutet es, im Verdeckten und sonst Unzugänglichen, Zwischenräume aufzuspüren, die als queere Orte des Widerstands und der Selbstermächtigung nutzbar werden. Gleichzeitig bleiben diese Möglichkeitsräume meist im Unsichtbaren und stellen somit vulnerable Zonen dar, deren transformatives Potenzial sich erst dann vollkommen entfaltet, wenn sie aus dem Verborgenen heraustreten und Teil einer kollektiven Auseinandersetzung werden.
In diesem Sinne wird die Arbeit Tangerine selbst zum performativen Hack: ein temporärer Eingriff, der bestehende Ordnungen irritiert und neue Möglichkeitsräume eröffnet. Körperliche Präsenz und Aushandlung werden zu einer Praxis der Raumaneignung, die resistent gegenüber heteronormativen Strukturen wird und gleichzeitig Platz für Vielschichtigkeit und Veränderbarkeit einfordert.
Bittersüße Gesten, zyklische Formen, klebriger Widerstand
„What makes the world go round …“
Das Zirkulieren wird bei Tangerine zum choreografisch-dramaturgischen sowie zum politischen Motiv. Göksu Kunak, Bilgesu Akyürek und Felix Beer erzeugen durch die Schaffung temporärer Räume eine klebrige Wirkung, die sich durch Koexistenz und ausgedehnte Zeitlichkeit in Zeitlupe ausgeführter Bewegungen äußert. Wie der bittersüße Saft einer Tangerine, der beim Schälen an den Fingern haftet, hinterlässt die Performance Spuren, zieht Fäden, verweilt. Der Titel Tangerine wird so zur sinnlichen Metapher für das behutsame Aufbrechen von Strukturen, das Eindringen unter die Oberfläche. Klebrigkeit wird hier zum Modus des Widerstands – langsam, weich, ausdauernd.
Verschiedene Situationen durchwandernd, gehen die Performer:innen diesen verdeckten Strukturen nach und verhandeln Momente, an denen jene Strukturen schlagartig an die Oberfläche schwappen. Als Material und Metapher für das Aufbrechen verborgener Machtstrukturen greift Tangerine den Susurlik-Skandal (1996) auf, bei dem ein Verkehrsunfall mit mehreren Todesopfern in der Türkei illegale Verstrickungen zwischen Polizei, Politik und Kriminalität enthüllte. Diese politische Dimension durchdringt die Performance nicht explizit, sondern sedimentiert sich als erinnernde und verkörpernde Annäherung.
Eine freistehende Pole-Stange, eine runde, sich langsam drehende Plattform und ein an der Wand befestigter Strap – ein körpertragendes Band, das sowohl Halt als auch Widerstand bietet , sind im Ausstellungsraum der FÜNFZIGZWANZIG installiert. Kunak interessiert sich in künstlerischen Arbeiten für non-lineare und unorthodoxe Erzählstrategien und leitet mit einem Score – sprich einer Handlungsanweisung – ein: „Please, use the space with us.“ Damit schafft Kunak gemeinsam mit den zwei Performer:innen ein multiperspektivisches Setting sowie eine dynamische, involvierte Beziehung zwischen Performenden und Anwesenden.
Kunak durchbricht Konventionen der ‚westlichen‘ Dramaturgie, die sich an einem klaren Spannungsbogen mit Steigerung, Höhepunkt und Auflösung orientiert. Statt auf eine zielgerichtete Entwicklung hinzuarbeiten, wird eine zyklische Struktur gewählt, in der Tableaux vivants parallel entstehen und affektgeladene Songs wie in einer Schleife aneinandergereiht werden. Diese non-lineare Strategie erzeugt einen emotionalen Schwebezustand zwischen Melancholie und selbstermächtigender Wendung – ein Moment der Spannung, der sich weder auflöst noch kulminiert, sondern in der Langsamkeit und Wiederholung verharrt. Darin liegt eine produktive Reibung, die an queer-feministische Theorien und Praktiken von Lust und Begehren anschließt: nicht als direkter Weg zum Höhepunkt, sondern als zirkuläre Bewegung, als Fragment, als Fetisch – und damit als Widerstand gegen normative Narrative von Macht, Kontrolle und Auflösung.
Die verkörperten Gesten sind bittersüß und oszillieren zwischen Zärtlichkeit und Gewalt. Mikrobewegungen werden widerständig gegen eindeutige Repräsentation von Queerness genutzt und in sich gekehrte, krumme Körperhaltungen nehmen die Form hyperrealer Körper an, die stilisierte Posen aus der skulpturalen Plastik evozieren. Die klebrig-zähe Langsamkeit fungiert als Widerstreit gegen Beschleunigung und Spektakel und wirkt in einer schnelllebigen, kapitalistischen Gesellschaft wie eine Störung, die sich schnellen Reizen entzieht und Raum für Ambiguität und Lust schafft. In der konstant exerzierenden Kreisbewegung sind Körper und Formen pausenlos im Entstehen, wodurch das Dazwischen in den Vordergrund tritt und als nonkonform zu verstehen ist. In einem der letzten Tableaux vivants hängt Kunak gesichert durch den Strap an der Wand. Die bogenförmigen Bewegungen der Beine transferieren sich durch den Dreck an den Schuhen beiläufig an die weiße Wand. Am Ende der Performance legt Kunak nicht nur Spuren frei, sondern hinterlässt selbst welche und schreibt sich in das System ein.
wild thinX 2025
Das Forschungsfestival wild thinX: non-conformist strategies in architecture, design and art, das von Kunaks Arbeit eröffnet wurde, widmet sich den Fragen, wie Räume jenseits normativer identitärer Zuschreibungen geschaffen und nonkonforme Strategien entwickelt werden können, um modellierbare, gemeinschaftliche Räume zu fördern, die gegen konstante Erneuerung resistent sind. In besonders fokussierter Form fand ein Teil des Festivals vom 16. bis 18. Mai 2025 in der Stadt Salzburg statt. Die Ausstellungen in den Räumen der FÜNFZIGZWANZIG und in Form eines associated programs auch im Salzburger Kunstverein sind bis 13. bzw. 25. Juli bei freiem Eintritt zugänglich. In ihnen sind künstlerische Positionen kuratiert, die sich mit vielfältigen Formen des Widerstands beschäftigen. In der FÜNFZIGZWANZIG geschah dies ausgehend vom historischen Beispiel des antifaschistischen Prenninger Kreises nahe Graz bis hin zu zeitgenössischen Ausdrucksformen in Form von Videoarbeiten, die widerständige Praktiken im Umgang mit gesellschaftlichen und natürlichen Räumen erforschen. Ergänzend dazu wird zur gemeinsamen Praxis in Form von Talks, Stadtführungen und weiteren Veranstaltungsformaten eingeladen.
Fußnoten
[1] Kunak, Göksu: Panel on Non-Conformist Practices in Art, Künstler:innengespräch, Initiative Architektur, Salzburg (17. Mai 2025).
16. Mai bis 25. Juli 2025
wild thinx: non-conformist strategies in architecture, design and art
Ausstellungsraum der FÜNFZIGZWANZIG
Dienstag–Samstag | 13–18 Uhr
17. Mai 2025
Tangerine: Göksu Kunak, Bilgesu Akyürek und Felix Beer
Ausstellungsraum der FÜNFZIGZWANZIG
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