Immer näher: Archäologien des Inneren
30. April 2025
Veronika Sattlecker
Die Ausstellung „Archäologie des Schweigens (Zauberberg Revisited)“ in der Galerie Nikolaus Ruzicska ist kühler Operationssaal und wärmendes Sanatorium zugleich – sie führt die Besuchenden näher an Ben Willikens denn je
Wer an den titelgebenden Zauberberg denkt, der sieht womöglich schneebedeckte Gipfel, Klappsessel auf der Sonnenterrasse und einige von Thomas Manns Charakteren: dekadent, selbstvergessen, suchend. Doch was im Schweizer Sanatorium mitbrodelt, sind klinische Kühle, Tod und die Einsamkeit zu Beginn des Großen Kriegs. Diese morbide Zwischenwelt wird dort ganz aktuell, wo Ben Willikens seine neue Werkserie aus den Jahren 2024 und 2025 auf Augenhöhe präsentiert.
Die Hängung des ersten der 14 Gemälde fordert einen leichten Blick nach oben und senkt den Standpunkt der Betrachtenden für Raum 1847 (2025) etwas ab. Dort ‚sitzt‘ man am Fußende eines metallenen Stockbetts und blickt durch weiße Streben hoch zum Kopfpolster eines anderen. Die Konstruktion aus Bettrahmen und gestreiften Matratzen öffnet eine Zwischenwelt, die eine Deutung als Kaserne, Gefängnis oder Klinik suggeriert; alles Räume, die der französische Philosoph Michel Foucault als Heterotopien bezeichnete. Diese Räume setzen immer „ein System von Öffnungen und Schließungen voraus, das sie gleichzeitig isoliert und durchdringlich macht“[1]. Das Verhältnis des Menschen zu eben solchen Räumen bildet das Fundament von Willikens Arbeiten.
Zum unverwechselbaren Œuvre zählen da das Abendmahl aus den 1970ern, die Reichskanzlei (1996) oder die großen Fenster aus der Serie ORTE 2 (um 2020). Doch die neue Serie hat wenig von der bedrückenden Ordnung und „frappierenden Kälte“[2] dieser früheren Werke. Stattdessen taut Willikens die eisigen Hänge des metaphorischen Zauberbergs in pastelligen Blau- und Grautönen langsam ab. Wie kann es sein, dass man hier, in klinisch reduzierten Räumen, auch nur die geringste Wärme verspürt? Zur beklemmenden Einsamkeit, die aus Willikens großen weiten Räumen bekannt ist, schleicht sich jetzt eine menschliche Präsenz.
Diese Nähe entsteht durch die persönliche Blickstruktur der Werke. Fluchten, wie man sie von Willikens kennt, und weite, teils kahle, menschenleere Räume bleiben hier aus. Stattdessen erfolgt ein Zoom auf Raumdetails und -ausschnitte. Was Betrachtende erst als Bettkante, Stuhlbein oder Wasserhahn erkennen, entpuppt sich als abstrakte Form ohne wirkliche Grenze. Diese intimen Ansichten suggerieren eine menschliche, persönliche Perspektive und doch bleiben die Bildräume ohne Personal. Aber gerade diese menschenleeren Betten, die schwebenden Lüftungsgitter und Heizungsrohre lassen eine geistige, womöglich ‚wahnsinnige‘ menschliche Präsenz erahnen. Das fast greifbare Mobiliar, der kühle Bettrahmen nur wenige Zentimeter von den Fingerspitzen entfernt, macht diese Räume vertraut und fremd zugleich.
Schatten sichten
Eine Heterotopie versteht sich eben auch als Ort der gesellschaftlichen Außenseiter. Willikens greift auf seine eigene Erfahrung stationären Aufenthalts zurück – die Isolation des Sanatoriums wird hier zum Ausgangspunkt für die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Ein weißer Stuhl rückt in Raum 1815, Raum 1828 und Raum 1829 (alle 2024) immer näher und wirft wie im Fiebertraum eines bettlägerigen Patienten verzerrte Schatten an die blaugrauen Wände. Wie auch die menschliche Erinnerung dem Geist beim Versuch der Rekonstruktion einer realen Vergangenheit Streiche spielt, weichen Willikens Schattenrisse marginal und doch eindeutig voneinander ab. Die Lichtquelle für diese Schatten entzieht sich. Nur in Raum 1827 (2024) gibt es eine innerbildliche Lampe, doch fungiert das kalte, sterile Neonlicht als visuelle Metapher institutionalisierter Kontrolle. Hier findet die für Willikens typische Auseinandersetzung mit Machtsystemen in Nahsicht statt. Die Anstaltsbilder injizieren schließlich ein Unbehagen über ‚dunkle Flecken‘ seiner ganz persönlichen, aber auch einer gesamtgesellschaftlichen Biografie. In Anlehnung an Michel Foucaults philosophische Gesellschaftsanalyse Archäologie des Schweigens werden die Werke zur Anamnese einer Gesellschaft des strukturellen Ausschlusses und Unsichtbarmachens.
Erinnerung ausgraben
Wie die Archäologie bruchstückhafte Scherben eines antiken Gefäßes zutage fördert, das zur menschlichen Spur wird, legt Willikens in seiner neuen Serie fragmentarische Ansichten frei und gräbt in prägenden Lebensphasen, in persönlichen wie kollektiven Erinnerungsschichten. Der Künstler macht die Betrachtenden ein Stück weit zu Archäolog:innen, um gemeinsam geistige Zeugen der Vergangenheit zu exkavieren. Was freigelegt wird, sind architektonische Erinnerungsstrukturen, die weit über das Individuum hinausweisen. Sie zeigen, dass auch Räume „für den Betrachter ein Gedächtnis [verkörpern], an dem er als Individuum zwar teilhat, das ihn jedoch bei weitem übersteigt“.[3]
Die neuen Werke von Willikens sind mitnichten menschlos stumm. Sie flüstern als leise, aber resiliente Stimme, die gleichzeitig Unbehagen und Sehnsucht weckt. Wer vor den Bildern steht, wird weggestoßen und zugleich angezogen. Wer meint, eben eine Erinnerung ausgegraben zu haben und ein wenig Erkenntnis sein Eigen zu nennen, muss dies im Sinne einer Anti-Bildung, wie sie nur am heterotopischen Zauberberg möglich ist, kurzerhand wieder infragestellen.
Literatur
[1] Michel Foucault: „Andere Räume“ (1992), in Karlheinz Barck et al. (Hrsg.) Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik. Leipzig: Reclam, 1991. S. 34–46.
[2] Klaus Albrecht Schröder und Constanze Malissa (Hrsg): Ben Willikens. Kälte – Räume. Kerber Verlag, 2022. Albertina. Web: <https://www.albertina.at/ausstellungen/ben-willikens/>.
[3] Aleida Assmann: Erinnerungsräume: Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München: C.H. Beck, 2018. S. 299.
Noch bis zum 16. Mai
Ben Willikens – Archäologie des Schweigens (Zauberberg Revisited)
Galerie Nikolaus Ruzicska
Dienstag – Freitag | Samstag auf Anfrage
9.30 – 16.00 Uhr

Das könnte dich ebenfalls interessieren

Gemeinschaftliche Versuche künstlerischer Verdichtung
November 24, 2024
Plötzlich Materie. Rose English im Museum der Moderne
April 21, 2025