Review

Elfriede Mejchar küsst Baudelaire zum Lunch

15. Juli 2024
Veronika Sattlecker

In einer kurzweiligen Ausstellung zum 100. Geburtstag der Künstlerin zeigt das Museum der Moderne Werke aus Mejchars Œuvre, die Charles Baudelaire gefallen hätten

Die Mittagspause ist nicht ganz vorbei, ein Nachtisch hätte da noch Platz. Doch statt süßer Kalorien sei ein Treffen mit Elfriede Mejchar (1924–2020) empfohlen. Ein Espresso für die Augen, quasi, der den Alltagstrott durchbricht. Denn wer keine Zeit hat, einen ganzen Museumstag einzulegen, wird bei dieser Begegnung im Rupertinum flott erfrischt. Die Ausstellung Poesie des Alltäglichen, kuratiert von Katharina Ehrl, zeigt jene Werke von Mejchar, in denen sie das Kleine porträtiert und dem Verschwindenden nachspürt. 

So erstreckt sich unter der getäfelten Holzdecke im Altstadt-Standort des Museums ein Register an Fotografien der Simmeringer Heide und des Erdberger Mais. Eines der Bilder wird als flächenfüllender Druck auf der Südwand gezeigt – hinter einem rostigen Auto, das am Wegesrand zurückgelassen wurde, spannt sich die Weite des Wiener Stadtrands. In der Serie, die im Zeitraum von 1967 bis 1976 entstand, reihen sich brachliegende Äcker an rauchende Industrieschornsteine, schiefe Zäune ragen wie Zähne aus dem staubigen Boden, dazwischen tauchen selten Menschen als schattenhafte Staffage aus dem Gegenlicht auf. Die braune Schwefel-Tonung der Fotografien verleiht ihnen den Schleier der Vergangenheit, macht sie aber auch gleichzeitig länger haltbar. Wie eine Topografin vermisst Mejchar hier den Raum zwischen Stadt und Land nüchtern und dokumentiert die Peripherie so, wie es Stephen Shore oder Lewis Baltz in den amerikanischen Vororten praktizierten, als Erste in Österreich.

Wo sich Poesie und Fotografie treffen

Etwa 100 Jahre vor Mejchars Streifzügen am Rande Wiens veröffentlichte Charles Baudelaire seinen Gedichtband Les Fleurs du Mal. Wer vor Mejchars Fotografien steht, dem flattern unweigerlich diese ‚bösen’ Blumenblätter in die Gedanken. Die Gedichte widmen sich der Melancholie und dem Weltschmerz: Baudelaire macht sich den Großstadtmenschen zum Thema, der sich vom Leben entfremdet, jenen, „dem dumpf in Schlaf gewälzt der Tag vergeht / wenn langsam sich der Zeiten Spindel dreht“. Die schmutzige, morbide Stadt mit all ihren Schattenseiten hält Einzug in die Dichtung. Damit erregte Baudelaire nicht nur den Zorn von Journalist:innen und Öffentlichkeit, sondern heimste sich einen Gerichtsprozess ein, der mit einer Geldstrafe endete. Sechs seiner anstößigen Gedichte musste er aus dem Band entfernen. Was hier eigentlich passiert ist ein formaler und inhaltlicher Bruch mit der klassischen Poesie. Baudelaire stellt sich der ‚hässlichen‘ Realität des Alltags. Eine ähnliche Faszination beschreibt Mejchar in einem Interview: „Bei Ausstellungen wurde ich oft gefragt, warum ich so grausliche Orte fotografiere, so einen Mist. Das hat mich überrascht, denn ich finde das gar nicht grauslich.“

Die Fotografin, die an einsamen Nachmittagen mit ihrer Kamera dorthin fährt, wo die Stadt ausfranst und der Landschaft Platz macht, wird den Besuchenden in der Ausstellung erst später vorgestellt, fast so, als wären die sich kontinuierlich verändernden Landschaften ohne menschliches Zutun auf Fotopapier gelangt. Doch genau nach dem menschlichen Eingreifen in die Umwelt sucht Mejchar in ihren Fotografien: „Mich interessieren nicht so sehr die Menschen, sondern das, was die Menschen machen, ihre Spuren, ihre Orte. Vielleicht hab’ ich das auch von der Arbeit im Bundesdenkmalamt, von den Ausgrabungen.“

Das Vergängliche seriell festhalten

Gleich im ersten Ausstellungsraum wird klar, wie präzise sie das Fliehende in seinem Zustand abzulichten versucht. Sie macht Einsamkeit und Verfall ästhetisch präsentabel. Dabei werden apokalyptisch anmutende, singuläre Bildgegenstände im Kollektiv präsentiert: Mejchar arbeitet immer seriell, ihre verlassenen Fremdenzimmer (1970–86) werden ebenso gereiht wie Die Monatssesseln (1986–88). In einer Serie von zwölf Silbergelatineabzügen auf Barytpapier hält sie ausgemusterte, scheinbar wahllos abgestellte und vergessene Sitzgelegenheiten fest.

„Ich fotografiere das Verschwindende, bevor es verschwindet,
das, was halt bald nicht mehr da ist.“ – Elfriede Mejchar

Mejchar findet ihre Motive unter Plastikfolien, zwischen kniehohen Grashalmen oder in verstaubten Hinterhöfen. Hier werden die Fotografien unbelebter Gegenstände zum intimen Porträt. Mejchar lernte in den 1940ern in einem Porträtstudio, distanzierte sich dann aber von dem Genre. Im Museum der Moderne ist dennoch die Serie Künstler bei der Arbeit (1954–61) zu sehen, in der sie Künstler:innen der Wiener Secession in ihren Ateliers porträtierte. Ähnlich wie Mejchars Landschaftsfotografien stieß auch die abstrakte Kunst bei den Besuchenden der Secession häufig auf Unverständnis – Mejchar zeigt aber nicht die moderne Kunst, sondern den Alltag der Schaffenden und inszeniert diese in scheinbaren Schnappschüssen am privaten Arbeitsort.

Porträts fliehender Zeit

Neben den Porträts von Arnulf Rainer, Josef Mikl oder Christa Hauer wird nun Mejchar endlich selbst in einer biografischen Skizze vorgestellt. Bilder aus dem Archiv zeigen sie bei der Arbeit; sie ist im Freien unterwegs, schleppt ihre Fotoausrüstung oder baut sie vor denkmalgeschützten Gebäuden auf. In den 80ern widmet sich Mejchar dann vermehrt der Studiofotografie – und der Vergänglichkeit. Die acht Abzüge aus der Serie Amaryllis (1994–97) zeigen in schwarz-weiß Nahaufnahmen von Blumen, die bereits verwelken. Während sich die zarten Blätter an den Rändern kräuseln und teils vom Stempel der Amaryllis abbrechen, klingen leise Zeilen aus Baudelaires Fleurs de Mal an: „Zeit verschlingt das Leben […] lang währt die Kunst, die Zeit, sie jagt.“

Die Zeitkomponente in Mejchars Fotografien wird nicht nur durch die chronologische Hängung betont, sondern vor allem durch Motive im Themenfeld des Alltäglichen. Nicht zuletzt ihre abfotografierten Collagen, die sie vor allem in ihrer Pension arrangiert, nicht klebt und mit der Kamera erfasst, bevor sie die Komposition erneut auflöst. Hier treffen Schnipsel aus Modemagazinen und ‚böse‘ Blümchentapeten aufeinander und künden von der Vergänglichkeit oberflächlicher Schönheitskonzepte. Baudelaire hätte das Hinschauen auf Details wohl gefallen. Er hätte die Praxis gemocht, das Ephemere und die Spuren der Menschen mit künstlerisch-dokumentarischem Anspruch festzuhalten. Das Alltägliche darf bei Baudelaire in die Poesie – bei Mejchar in die Fotografie. So reicht schon ein kurzer Museumsbesuch zum Lunch, um die Werke Elfriede Mejchars in der aktuellen Ausstellung zu erkunden und sich die Poesie im eigenen Alltag bewusst zu machen.

Literatur

Baudelaire, Charles. Les Fleurs de Mal. Die Blumen des Bösen. Französisch / Deutsch. Übersetzt von Monika Fahrenbach-Wachendorff, Stuttgart: Reclam, 2014.

Kos, Wolfgang. „Ich finde interessant, was die Menschen liegen lassen.“ Interview mit Elfriede Mejchar, 2008. In: magazin.winemuseum.at, 14.10.2020.

26. April bis 15. September

Poesie des Alltäglichen. Fotografien von Elfriede Mejchar
Museum der Moderne Rupertinum

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