Die wiedergefundenen Details einer verlorenen Generation
08. November 2024
Marion Sauer
Das Museum Kunst der Verlorenen Generation zeigt die neue Sonderausstellung „Reflected – Kunst als Spiegel der Gesellschaft“ und befragt dabei die Sammlung Böhme nach ihren vielfältigen Perspektiven auf die sozialen und politischen Umstände der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts
Ein unscheinbarer Hauseingang in der Sigmund-Haffner-Gasse führt über eine Steintreppe in den ersten Stock des alten Stadthauses und somit, wie der Kunstsammler Prof. Dr. Böhme es selbst bei der Eröffnungsrede für die neue Ausstellung bezeichnet, in „sein zweites Wohnzimmer“. Einem tatsächlichen Wohnzimmer mag das kleine Privatmuseum Museum Kunst der Verlorenen Generation vielleicht nicht gleichkommen, jedoch bietet die entspannte und intime Atmosphäre des alten Salzburger Stadthauses eine Möglichkeit, sich für die dringlichen Themen der Verlorenen Generation Zeit zu nehmen. Der Fokus auf die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts gibt vergessenen, vorwiegend jüdischen Künstler:innen ihre Stimmen zurück, der sie durch die drastischen Einschnitte des NS-Regimes beraubt wurden.
Seit dem 19. Oktober werden die drei Ausstellungsräume mit der neuen Sonderausstellung Reflected – Kunst als Spiegel der Gesellschaft bespielt – ein sehr breit gewähltes und ambitioniertes Themenfeld, besonders im Vergleich zu den bisherigen wechselnden Ausstellungen des Museums. Notwendig ist es dabei, sich Zeit zu nehmen, um den künstlerischen Reflexionen dieser verlorenen Generation Gehör zu verschaffen. Wer hier allerdings ein erfrischendes Ausstellungskonzept erwartet, wird zunächst enttäuscht. Schlendert man zum ersten Mal durch die Räumlichkeiten, ändert sich dieser Eindruck erst nur wenig, doch fallen in den einzelnen Arbeiten zunehmend einige Details auf, die die Aufmerksamkeit gelungen auf sich ziehen. Flaniert man achtsam und vielleicht auch mehrere Male durch die Räume, kommen immer mehr von diesen liebevollen Details zum Vorschein.
Großstadtfaszinationen
Im ersten Ausstellungsraum werden die Besuchenden von einer Berliner Straßenszene (Heinrich Esser) und einer Ansicht Londons (Samson Schames) begrüßt, welche den Durchgang zum nächsten Raum flankieren. Diese Arbeiten werden von neun weiteren Gemälden begleitet, die im gesamten Raum verteilt die Großstadt und das Großstadtleben thematisieren. Stilistisch ebenso wie zeitlich bieten die Werke einen Überblick über die vielfältigen und teils auch zwiespältigen Gefühle der Menschen dieser Zeit. Die verarbeiteten Eindrücke oszillieren zwischen einer Faszination für das Großstadtgetümmel mit all ihren Möglichkeiten sowie einer Angst vor dem raschen Fortschritt und der damit verbundenen Schnelllebigkeit. Spiegelt die Farbpalette in Heinrich Essers Beispiel das Triste und Monochrome einer Millionenstadt wider, romantisiert Julius Wolfgang Schüleins Ansicht von Paris mit ihren hellen, freundlichen Farben und der belebten Straße die französische Hauptstadt.
Ein weiteres Werk von Esser, Ohne Titel (Zwei Männer im Gespräch), paart sich an der rechten Wand des Raums mit dem Gemälde Unterwegs von Erwin Oehl. Beide Werke zeigen Stadtansichten, die an die Nachkriegsbauten der 50er-Jahre erinnern. Vielleicht ist es die rostbraun dominierende Farbwahl, die einen trostlosen und fahlen Eindruck hinterlässt oder es sind die aneinandergereihten Wohnhochhäuser, die möglicherweise von der Bürde des Wiederaufbaus erzählen. Oehls Datierung gibt jedoch das Jahr 1945 an – drei Jahre vor dem Marshall Plan – und scheint damit ein überraschend frühes Beispiel für den Wiederaufbau ganzer Städte zu sein. Oder ist das Werk doch einige Jahre später entstanden und der Künstler datierte es aus unbekannten Gründen in ein früheres Jahr? Kein unbekanntes Phänomen in der Kunstgeschichte. Allenfalls ist es eines der vielen kleinen Details der Ausstellung, die einem nachträglich im Kopf herumschwirren.
Einen etwas freundlicheren Ausgleich zu den tristen Darstellungen bietet Flaneure im Park von Max Stern – ein hübsches, kleinformatiges Gemälde. Dieses ist angelehnt an den französischen Impressionismus. Es zeigt den Alltag der Oberschicht des beginnenden 20. Jahrhunderts und erinnert in diesem Punkt sehr stark an Georges Seurats La Grande Jatte. Die Platzierung des Werks links neben dem Eingang, in gewisser Weise am Anfang des Raums, wirkt wie die Ruhe vor dem Sturm, wie der Beginn eines neuen Jahrhunderts vor den Schrecken zweier Weltkriege.
Armut im Porträt und Konsum im Überfluss
Im zweiten und auch größten Ausstellungsraum fallen zwei Frauenporträts (Die Sünde von Hans Breinlinger und Die Dame mit rotem Hütchen im Café von Georg Netzband) auf zwei großen Staffeleien in den Blick. Die Werke schlagen eine Brücke zwischen den beiden Themenbereichen, die in diesem Raum Platz finden. Wie zwei Seiten einer Münze kontrastieren die gegenüberliegenden Wände des Raums die guten und schlechten Aspekte der Weimarer Republik und ihrer Gesellschaft: Der wirtschaftliche Aufschwung der Goldenen Zwanziger einerseits und das von Putschversuchen durchsetzte, unsichere politische System andererseits sowie die später einsetzende Wirtschaftskrise. Die Porträts im Stil der Neuen Sachlichkeit bilden in der linken Raumhälfte schonungslos diese Missstände in der Gesellschaft ab.
Dort begegnet man Blicken, die fast schon resigniert in die Leere starren (Arbeiterfrau mit Kind von Carl Meffert) und etwas offensichtlichere Anspielungen an das Elend der Arbeiterklasse. Sie finden sich in Details wie der Süddeutschen Arbeiter-Zeitung in dem Gemälde Mutter in der Küche wieder, wobei der Hals etwas verrenkt werden muss, um die auf dem Kopf stehende Schrift entziffern zu können. Auch im Selbstporträt Schillerkragen des Künstlers Franz Frank lassen sich Nuancen erkennen, die seine freidenkenden Ansichten gegenüber der konservativen Gesellschaft wiedergeben: Dieser zur Zeit von Friedrich Schiller in Mode gekommene gleichnamige Hemdkragen, der auf dem Jackenrevers aufliegt, gilt seither als Kontrast zur engen Halsbinde des Adels und symbolisiert eine antibürgerliche Haltung sowie revolutionäres Gedankengut. Rechts in völligem Kontrast dazu finden sich die beiden Bilder In der Schuhabteilung des KaDeWe und In der Hutabteilung des KaDeWe von Georg Netzband, die den Konsumrausch der wilden Zwanziger thematisieren – ein Motiv, das in Hans Böttchers gleichnamigen Gemälde gipfelt.
Zu sehen ist eine beinahe schon groteske Darstellung eines tanzenden Paars, bei dem die leuchtenden Farben der Kleidung den pechschwarzen Hintergrund kontrastieren. Gleichzeitig finden sich auf dieser Seite auch Bilder, die Tanzcafés, Nachtlokale und Kneipen zeigen. Ein nettes Detail sind die beiden Gemälde, die an der Wand zu den Toiletten hängen. Nicht jedes Museum kann von sich behaupten, dass ein Absinthtrinker und ein Tanzcafé den Weg aufs stille Örtchen säumen.
Zwischen Weinen und Lachen
Das aufregende Herzstück der Ausstellung findet man jedoch versteckt in dem kleinen, letzten Raum hinten rechts. Hier trifft man auf eine sehr viel ernstere Thematik: Der Titel an der Wand Zeiten der Krise lässt erahnen, was einen erwartet. Trotzdem sind die drei Gemälde von Horst Strempel, die sich genau an der gegenüberliegenden Wand der Tür befinden, beinahe schon ein emotionaler Schlag ins Gesicht: scharfe Kanten, dunkle Farben und Figuren, deren Augen nur aus schwarzen Löchern bestehen. Selbst ohne dem leuchtend gelben Stern an der Kleidung oder dem Titel Pogrom, den zwei der drei Gemälde tragen, ist das Bildmotiv der Judenverfolgungen während der NS-Zeit klar. Heute aktueller denn je gehören diese drei Werke zu den ausdrucksstärksten der Ausstellung und lösen in dem Betrachtenden eine Beklommenheit aus, die selbst nach dem Verlassen des Museums andauert.
Auch die Monarchie kommt nicht ganz ungeschoren davon. Voigt ist gleich mehrmals vertreten und kritisiert nicht allein das NS-Regime, sondern auch alle Monarchisten, die nostalgisch an einer rückständigen Ordnung festhalten, die schon längst ausgedient hatte.
Das Herzstück der Ausstellung ist dieser kleine Raum vor allem aber wegen der erschlagenden Vielfalt, mit der das Thema Krieg und politische Unruhe in den Werken behandelt wird. Die Gemälde von Strempel sind ein Beispiel dafür, Alfred Schwarzschilds satirisch-karikatives Werk Siegesporträt ein anderes. Bei Letzterem zeigt sich der Künstler selbst vor der Leinwand, einigen Rembrandt-Werken nicht unähnlich. Anstatt eines Holzschemels bietet jedoch ein zusammengekrümmter Adolf Hitler mit seinen Krallen als Finger und den kleinen Hörnern am Kopf die groteske Sitzmöglichkeit des Künstlers. Schwarzschild bleibt damit nicht allein. Wenn man sich in dem Raum umsieht, lassen sich eine ganze Reihe weiterer satirischer Bildthemen wie die Karikaturen von Bruno Voigt oder Paul Knothes Triumph des Willens finden – alle in einem kleinen Format und alle ein Beispiel für das Risiko, das solche Darstellungen bedeuteten.
Viele dieser genannten Details fallen bei einem ersten Durchgehen nicht sofort auf. Wer vorhat, nur kurz durch die Schau zu schlendern – es sind ja bloß drei Räume –, der verpasst eine liebevolle Auswahl an Werken, die für sich allein genommen bereits faszinieren können und in denen man selbst beim dritten Hinsehen neue Finessen entdeckt. Weshalb trägt der Herr des tanzenden Pärchens ein Monokel mit schwarzen, opaken Gläsern? Warum liegt ein Kaisersemmel auf dem Tisch eines Gemäldes, das eigentlich die Armut der Arbeiterklasse hervorhebt? Weshalb hat ein Künstler die Stadtlandschaft Jerusalems mit einem Stillleben kombiniert? Was macht das kleine Teufelchen auf der Schulter des Mannes? Wenn man sich genügend Zeit nimmt, lassen sich vielleicht ein paar Antworten darauf finden.
19. Oktober 2024 bis 27. September 2025
Reflected – Kunst als Spiegel der Gesellschaft
Museum Kunst der Verlorenen Generation