Review

Verwobene Geschichte(n) schürfen

24. Oktober 2025
Doris Huber

Detailaufnahme eines historischen Briefes an Hertha Pauli, Teil des recherchierten Archivs für die Ausstellung Eine andere Geschichte
Karin Fisslthaler bei der Nachlass-Recherche von Hertha Pauli in der Österreichischen Nationalbibliothek © Karin Fisslthaler

Mit ihrer multimedialen Arbeit „EINE ANDERE GE/S/CH/ICHT/E“ im Stille Nacht Museum Oberndorf überrascht Karin Fisslthaler durch eine konzeptionell vielschichtige, medial ebenso sparsame wie qualitätvolle Installation, die im Ambiente des ansonsten gänzlich konventionell gestalteten Museums völlig unerwartet erscheint

Karin Fisslthaler, bildende Künstlerin mit Wurzeln in Oberndorf bei Salzburg, lebt und arbeitet in Wien. In ihrem Werk bewegt sie sich vorwiegend im Bereich experimenteller Filme, Videos und Collage, oft unter Verwendung von Found-Footage. Daneben machte sie mit ihrem elektronischen Musikprojekt Cherry Sunkist als Sound-Installateurin auf sich aufmerksam.  Im Zentrum der Ausstellung im Stille Nacht Museum in Oberndorf, die im Rahmen der Projektreihe SIMULTAN realisiert wurde, stehen Leben und Werk der österreichischen Schriftstellerin, antifaschistischen Aktivistin, Schauspielerin, Journalistin und Fluchthelferin Hertha Pauli (1906–1973).[1]

GE/S/CH/ICHT/E

Schon durch den fragmentierten Begriff der Geschichte im Titel ihrer Ausstellung macht Karin Fisslthaler ihr Interesse an Leerstellen, ungewohnten Sichtweisen und nicht linear verlaufenden historischen Zusammenhängen deutlich und bleibt dabei einer ihr gewohnten Praxis treu. Sie nähert sich hier durch intensive Recherchearbeit einem weiblichen Vorbild: Hertha Pauli, deren historische Repräsentation, wenn überhaupt vorhanden, bruchstückhaft, unzulänglich und marginalisiert erscheint. In der Österreichischen Nationalbibliothek, die Paulis Nachlass seit 1987 beherbergt, fand Karin Fisslthaler das Ausgangsmaterial für ihre Werkserie bestehend aus Collage, Installation und einem Mobile, mit dem sie nun das Dachgeschoss des Museums in Oberndorf bespielt. Sie praktiziert dabei Aneignungs-, Dekonstruktions- und Verfremdungstechniken, die Neuinterpretationen und Perspektivenwechsel ermöglichen. Wesentlich in ihrer künstlerischen Praxis sind Archivrecherche und mediale Umcodierung des gefundenen Materials.

Installationsdetail mit konturgeschnittenem Aluminium und textlicher Überlagerung, Ausstellung Eine andere Geschichte von Karin Fisslthaler
Ausstellungsansicht ©periscope

SCHICHT

Ganz nebenbei und unangestrengt öffnet die Künstlerin in dieser Werkserie Assoziationsfelder von Beheimatung, Verlust derselben, Flucht, Exil und verlorener kultureller Identität. Erzwungene Migration und die damit verbundenen Erfahrungen, wie sie sich im Ausgangsmaterial zur Ausstellung fanden, führen gedanklich direkt in tagespolitisch relevante Problemstellungen. Vielfältige Verlustszenarien und deren künstlerische Bearbeitung schürft Fisslthaler bei Pauli zutage und verwandelt sie, immer eng am gefundenen Material hantierend, in medial komplexe Artefakte: Im Zentrum der Serie steht die großformatige Arbeit Untitled (2025), eine Collage aus miteinander verwebten Bild- und Textfolien. Zugrunde liegt eine Portraitfotografie von Pauli, welche mit dem Text ihres Buchs zum Stille-Nacht-Lied so auf das Engste, und in beiden Fällen bis zur Unkenntlichkeit, verschränkt wurde. Die aufwändige Flechtarbeit generiert einen außergewöhnlichen optischen Reiz und rekurriert gleichzeitig auf eine der ältesten weiblich konnotierten Kulturtechniken.

Ausstellungsansicht im Dachgeschoss mit Mobile, Text-Fragmenten und Porträt von Hertha Pauli, Installation von Karin Fisslthaler
Ausstellungsansicht ©periscope

SICHT

Mit ihrem Mobile F-Route (2025) wendet die Künstlerin ein eher spielerisches Verfahren an. Fragmente aus einem Plan von Paulis Fluchtroute über die Pyrenäen (von einem Fluchtbegleiter aus der Erinnerung skizziert, hat Fisslthaler diese im Archiv der Österreichischen Nationalbibliothek ausgehoben) sind dabei flexibel arrangiert und verändern ihre Position mit dem Luftstrom im Raum. Nach Aussage der Künstlerin handelt die Arbeit von „Erinnerung und deren Konstruktion, sowie von der scheinbar unmöglichen, doch möglich gemachten Flucht“. Ist die Karte – in der Art einer Mindmap gezeichnet – an sich schon mehr eine psychologische, denn eine geografische, so wird sie durch Fisslthalers Arrangement als Mobile noch fragiler und mit ihr die gesamte, von Ungewissheiten charakterisierte Fluchtsituation als solche nachvollziehbarer. Trotzdem schweben zwischen den feinen Elementen eine gewisse Heiterkeit und ein Optimismus mit, die sich auch immer wieder zwischen den Zeilen von Paulis Werk finden.

Rechercheaufnahme von Karin Fisslthaler in der Österreichischen Nationalbibliothek: Typoskriptseite mit handschriftlichen Korrekturen zu Hertha Pauli
Karin Fisslthaler bei der Nachlass-Recherche von Hertha Pauli in der Österreichischen Nationalbibliothek © Karin Fisslthaler

Von Zwischenräumen lebt das gesamte Ausstellungssetting. So bewegen sich die Besucher:innen in den Lücken zwischen dem wie Wölkchen montierten Werk Scherben (2025) durch den Raum. Dieser vierteiligen Installation von Drucken auf konturgeschnittenen Aluminiumplatten sind durchlöcherte und gewölbte Fine-Art-Prints vorgeblendet. Sie strukturieren den Raum, machen Leerstellen körperlich erfahrbar und regen dazu an, aktiv-partizipatorisch tiefer in der Geschichte zu schürfen.

Fussnoten

[1] Warum Hertha Pauli? Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten in Österreich war Pauli im Frühling 1938 über Zürich, Paris, Marseille und Lissabon nach New York geflohen, wo sie im September 1940 nach erheblichen Strapazen und Gefahren ankam. Dort verfasste die Schriftstellerin, die zuvor des Englischen kaum mächtig war, bereits 1943 das Jugendbuch Silent Night, The Story of a Song auf Englisch, nachdem sie festgestellt hatte, dass viele Menschen in Amerika das Lied für ein amerikanisches Volkslied hielten. In der Folge erschien das Buch in mehreren Auflagen und verhalf Pauli dabei, sich auf dem amerikanischen Markt auch als Autorin literarischer Werke zu etablieren. Im Detail nachzulesen ist ihre Fluchtgeschichte in Paulis autobiografischem Werk Der Riss der Zeit geht durch mein Herz (ein Heinrich-Heine-Zitat), das die Autorin 1970, dreißig Jahre nach der Flucht, verfasste. Es gilt inzwischen als eines der Schlüsselwerke deutschsprachiger Exilliteratur.

Bis 31. Oktober 2025

Eine andere GE/S/CH/ICHT/E
Karin Fisslthaler
Im Rahmen der Projektreihe SIMULTAN

Stille Nacht Museum | Oberndorf bei Salzburg
Mittwoch bis Sonntag | 10–18 Uhr